Dr. h.c. R. Deckers
Strafverteidiger-Kolloquium 2004 der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV
“20 Jahre Herbstkolloquium“
12. / 13.11.2004
Auszeichnung „pro reo“ an Rechtsanwalt Derk Röttgering
Das Strafprozessrecht dient der doppelten Aufgabe, die zugleich sein inneres Spannungsverhältnis ausmacht:
Es soll die Verfahrensformen zur Verfügung stellen, die die Überführung eines Schuldigen gewährleisten, es soll aber gleichzeitig sicherstellen, dass ein Unschuldiger nicht verurteilt wird und in seine Freiheit nur eingegriffen wird, wenn dies im Rahmen der Aufklärung einer Straftat unerlässlich ist.
Das Strafverfahrensrecht wird in diesem Sinne auch als Seismograph des verfassten Rechtsstaats bezeichnet.
Der Verteidigung ist in diesem einer Synthese schwer zugänglichen Verhältnis die Aufgabe zugewiesen, die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK nachhaltig umzusetzen.
In besonderen gesellschaftlichen und politischen Situationen, auch in besonderen Fallkonstellationen kann es für den einzelnen Verteidiger – neben dem notwendigen Fachwissen – ein hohes Maß an Zivilcourage erfordern, gegen die veröffentlichte Meinung, gegen Vorverurteilungstendenzen auch in der Justiz, gegen überzogene Strafverfolgung diese Position zu beziehen und beharrlich zu behaupten gegen alle Wechselfälle strafprozessualen Geschehens.
Im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts waren Angeklagte, gegen die der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs an Kindern erhoben wurde, hochgradig gefährdet, aus der Gesellschaft mit ihren dem Bürger zuerkannten Rechten ausgeschlossen zu werden.
In dieser Situation befand sich im Jahre 1990 der Erzieher Rainer Möllers, dem vorgeworfen wurde, Kinder in den Montessorieinrichtungen in Borken und Coesfeld vielfältig, vielzählig, in abenteuerlich anmutenden Formen sexuell missbraucht zu haben.
Einer Phalanx stand die Verteidigung gegenüber von sozialarbeitender Aufdeckungsorganisation (Zartbitter), Jugendpsychiater der Universität Münster (Fürniss) Boulevardpresse („Kinderschänder, Deutschlands schlimmster Fall“), Staatsanwaltschaft („ich klage alles an, was ich auf den Tisch kriege“) und obergerichtlicher Justiz (OLG Hamm: Er hat gedroht , „die Soldaten des Bundeskanzlers würden den Kindern den Kopf abschlagen (...) er werde die Eltern totzaubern, er werde die Kinder aus dem 20. Stock werfen“) und gewerblicher Aussagepsychologie (Fricke u. Krück / IGS Bochum – „Aussagen im Kern glaubhaft“) und Nebenklagevertreterinnen, Rechtsanwältinnen, die schon vor Prozessbeginn darauf hinwiesen, es gebe im Falle Möllers Anhaltspunkte dafür, dass es sich um rituellen Missbrauch handeln könne, also um sexuelle Zeremonien, Folter, Todesrituale, Inzest, Kannibalismus etc.
Das war die Verteidigung des Monsters in Zeiten mittelalterlich anmutender Hexenjagd in der Universitätsstadt Münster.
Der Prozess währte 2 ½ Jahre, am 121 Verhandlungstag sprach die Jugendschutzkammer unter dem Vorsitz des Vorsitzenden Richters Klaus-Dieter Walden Herrn Möllers frei.
Da hatte die Kammer schon zwei Mal Haftverschonung ausgesprochen und war jeweils vom Beschwerdesenat des OLG Hamm wieder aufgehoben worden. Das Urteil wurde rechtskräftig.
Der dieses Verfahren als Verteidiger durchgestanden hat, ist unser heutiger Preisträger.
Er hat auf die Notwendigkeit hingewiesen, der Geburtsstunde der Aussage und ihrer Entwicklungsgeschichte besonderes Augenmerk zu widmen. Sein Verdienst liegt darin, der gegnerischen Phalanx getrotzt zu haben.
Er hat mit einem erfahrenen Kollegen verteidigt. Das vier Augen Prinzip zu installieren, ist eine kluge Entscheidung in diesem Verfahren gewesen.
Er hat die affirmativen Gutachten der Aussagepsychologinnen des Arntzen-Instituts infrage gestellt und begehrt, qualifizierte Wissenschaftler der Aussagepsychologie ins Verfahren zu nehmen.
Er hat mit Prof. Dr. Undeutsch und Prof. Dr. Köhnken bei Gericht Gehör bekommen und ein Fehlurteil verhindert.
Auf diesem Weg ist er von den Spiegel-Redakteuren Gisela Friedrichsen und Gerhard Mauz gegen den Presse- Mainstream gestützt worden.
Begriffe, die uns heute selbstverständlich klingen, mussten in foro erst eingebracht werden. Die neuen Erkenntnisse der Aussagepsychologie mussten gegen ein Satrapengewerbe durchbrochen werden.
Rechtsanwalt Derk Röttgering ist in dieser so wichtigen justizhistorischen Situation der richtige Verteidiger für den richtigen Fall gewesen.
Dafür gebührt ihm die Auszeichnung und der Dank seiner Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht.