Logo
pro-reo Pro Reo

Laudatio für Erwin Tochtermann

STRAFVERTEIDIGER-KOLLOQUIUM 2006

Samstag, 11.11.2006

Laudatio für Erwin Tochtermann

Groß ist die Strafjustiz als Produzentin und Lieferantin unendlichen Stoffes für menschliche Dramen über Schuld und Schicksal, über Verbrechen und Strafe − in der großen Dimension von Tragödien und Komödien wie in der Volksausgabe der menschlich-allzu menschlichen Verstrickungen und Nöte der kleinen Leute. Groß ist die Strafjustiz aber auch als Lieferantin unendlichen Stoffes zu ihrem eigenen Glanz und Elend: zu ihren Verdiensten, zu ihren Schwächen und zu ihrem Versagen.

Das Bild des Gerichtsberichterstatters Erwin Tochtermann als Propheten der Strafjustiz trifft die Sache noch nicht ganz genau. Seine Rolle ist eher die des Interpreten, des berufenen Betrachters und Kritikers der Strafjustiz − überwölbt durch Erwin Tochtermann als Künstler und Literat. Seine Gerichtsberichte sind Literatur − und was für eine Literatur! Mir liegen einige Jahrgänge seiner gesammelten Berichte aus der Süddeutschen Zeitung vor − man ist fasziniert, man nimmt Partei, man staunt über die kriminelle Fantasie und Energie mancher Akteure, man regt sich auf über unverständliches richterliches oder staatsanwaltschaftliches Verhalten und über drakonische Strafen, man freut sich über Richtersprüche mit Augenmaß, man ist stolz auf überzeugendes Engagement von Verteidigern, man hat Mitgefühl mit dem Scheitern von Mitmenschen und schmunzelt über ihre Unbeholfenheit und über ihre unfreiwillige Komik − und man liest sich fest, stundenlang. Wie souverän er mit der deutschen Sprache umgeht, dieser Erwin Tochtermann, und wie patriotisch-liebevoll mit seinem bayerischen Idiom! Richtig aufregen kann er sich darüber, daß ein waschechter Bayer sich − noch dazu von einem anderen Bayern − als „zuagroaster Depp“ bezeichnen lassen muß − ein umso weniger nachzuvollziehender Irrtum, als diese üble Beschimpfung die Reaktion auf einen „Dreckhammel“ war.

Wenn meine Frau und ich, damals noch in Tübingen lebend, neben dem Schwäbischen Tagblatt schon im Jahr 1963 die Süddeutsche Zeitung abonniert haben, so geschah dies vor allem auch wegen Erwin Tochtermanns Gerichtsberichten: für uns münchnerische und bayerische Offenbarungen. Was Erwin Tochtermann bisher noch nicht weiß: Nicht zuletzt ihm habe ich meinen Beruf als Strafverteidiger zu verdanken. Das kam so − ich muß es Ihnen kurz erzählen: Ich war wissenschaftlicher Assistent in Tübingen, am Lehrstuhl von Horst Schröder, und bekam mehr und mehr das Gefühl, daß ich wohl eher ein Mann der Praxis sei. Um dieses Gefühl auf die Probe zu stellen, beschloß ich, zunächst ein Jahr in die Praxis zu gehen, dort wo sie „am praktischsten ist“, nämlich in eine Strafverteidigerkanzlei. Weil ich niemanden kannte, bat ich kurzerhand den Gerichtsberichterstatter Erwin Tochtermann um Rat. Er empfahl mir − es war im Frühjahr 1971 −, ich solle mich an einen gewissen (mir damals ganz unbekannten) Rechtsanwalt Rolf Bossi wenden; der sei zwar ein wenig umstritten, eine vergleichbare Vielfalt von Fällen wie bei ihm könne ich aber sonst nirgends finden. So bat ich Rechtsanwalt Bossi, mich für eine Art Praktikum in seine Kanzlei aufzunehmen. Er stimmte zu − und drei Monate später wußte ich, daß das mein Beruf ist und ich nie mehr nach Tübingen zurückkehren würde. Herzlichen Dank, lieber Erwin Tochtermann! Sie haben die entscheidende Weiche meines Berufslebens gestellt, und Sie haben uns zu bekennenden Münchnern gemacht (woran auch die wöchentlichen Arbeitsaufenthalte in Karlsruhe nichts ändern können).

Erwin Tochtermann als Künstler und Literat − das ist die eine Seite. Die Auszeichnung „pro reo“, die ihm heute verliehen wird, gilt seinem leidenschaftlichen Engagement für eine gerechte und faire Strafjustiz, eine Strafjustiz mit Augenmaß und Menschlichkeit, eine Strafjustiz, die mit verantwortungsbewußtem Kritikvermögen dem vernünftigen Zweifel Raum läßt und nicht von vornherein überheblich den Alleinbesitz der Wahrheit für sich beansprucht. In den fast 40 Jahren seines Wirkens wurde Erwin Tochtermann nicht müde, mit dem „hochgemuten Griff nach der Wahrheit“ mancher Richter ins Gericht zu gehen, und wieder und wieder geißelte er die fatale Neigung, mit der simplen Formel „Er mußte erkennen und hat auch erkannt“ den bedingten Vorsatz zu überdehnen und eine gefährliche Körperverletzung in ein versuchtes Tötungsdelikt zu verwandeln, um dann − wie er formuliert − „bei der Strafe so recht aus dem Vollen schöpfen zu können“. Erwin Tochtermann exhumierte die „Leichen im Keller der bayerischen Justiz“ − so der Titel eines seiner Bücher − und führte sie der erschreckten Öffentlichkeit vor Augen. Und weil ihn die Fähigkeit zur sanften Pädagogik nie verließ, brachten seine kritischen Mahnungen die Justiz zum Nachdenken und des öfteren sogar zur Einsicht und Besserung. Aus Richtermund stammt der Satz: „Man braucht so einen wie ihn: Man spricht vorsichtiger Recht.“

Nicht selten vermittelten Erwin Tochtermanns Berichte das Gefühl, daß er am liebsten mitverteidigt hätte. Als er Ende 1998, wenige Wochen vor seinem 69. Geburtstag in den Ruhestand trat, kleidete Steffen Ufer in einem „Nachruf zu Lebzeiten“ das Verhältnis von Erwin Tochtermann zur Strafverteidigung in folgende Worte:

„Er verachtete geradezu alle angepaßten Strafverteidiger, die ihre Kampfespflicht nicht erfüllten. Er bedachte sie mit seiner Höchststrafe: der Nichterwähnung auch im spektakulären Prozeß. Der besonders engagierte Anwalt bekam dafür sein höchstes Lob: nämlich mit einem Zitat erwähnt zu werden.“

Mit einer besonders hübschen Formulierung hat Erwin Tochtermann selbst einmal das heikle Verhältnis des Verteidigers zum Mandanten charakterisiert:

„… so verteidigte sich der Angeklagte, bevor sein Verteidiger eingreifen konnte …“

Fairneß forderte Erwin Tochtermann auch von seinen Berufskollegen. Als ein Münchener Boulevardblatt den Vorbericht über die Hauptverhandlung im Mordfall Sedlmayr mit der Schlagzeile ankündigte „So werden die Mord-Brüder überführt“ und in dem Artikel die Anklageschrift „hemmungslos ausschlachtete“, schrieb Erwin Tochtermann:

„Hierzulande schreibt eben der Profit die Gesetze − da kann man keine Rücksicht auf rechtsstaatliche Prinzipien wie die Unschuldsvermutung nehmen, derzufolge ein Verdächtiger bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten hat. Damit wird auch der Grundsatz unterlaufen, daß Schöffen unvoreingenommen in einen Prozeß gehen sollen. Was nützt es, daß sie das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen nicht kennen dürfen, wenn es ihnen in der Zeitung präsentiert wird? Wie sollen da L. und W. das faire Verfahren bekommen, auf das sie wie jeder Angeklagte Anspruch haben?“

Die durch das Öffentlichkeitsprinzip gewährleistete Kontrolle des Gerichtsverfahrens ist zugleich Symbol der Einbindung der Gerichte als dritte Gewalt in den demokratischen Staat, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Im Jahr 1877 hatten die Väter des Gerichtsverfassungsgesetzes noch allein die unmittelbare Öffentlichkeit vor Augen: nämlich die Teilnahme unbeteiligter Bürger als Zuhörer an der Gerichtsverhandlung. Heute wird die Kontrollfunktion von der − durch Medien vermittelten − mittelbaren Öffentlichkeit wahrgenommen. In diesem Sinne war Erwin Tochtermann die personifizierte Öffentlichkeit: ihr Idealtypus. In einer Reihe mit Sling und Gerhard Mauz ist Erwin Tochtermann einer der Großen seines Berufes, und sein Humor und seine Menschlichkeit machen ihn ganz unvergleichlich. Acht Jahre sind vergangen, seit er die Feder beiseite gelegt hat. Er fehlt uns. Aber er hat seine Nachfolger geprägt, und wenn man Hans Holzhaiders oder Helmut Kerschers Berichte liest, dann schimmert immer auch ein wenig Erwin Tochtermann durch.

Man könnte noch viel über Erwin Tochtermann sagen: etwa daß er Experte des Trabrennsportes ist (es wird berichtet, daß er sein Haus im Chiemgau vor allem seinem Pferdeverstand zu verdanken habe), man könnte seine Opernbegeisterung erwähnen, die sich in reizvoll zu lesenden Opernkritiken niedergeschlagen hat, oder man könnte davon sprechen, daß er zusammen mit seiner Frau (in seinen Worten: „der besten Frau der Welt, mit der ich seit 45 Jahren glücklich verheiratet bin“) seinem geliebten München treu geblieben ist und im Herzen von Schwabing lebt.

Aber wenn ihm heute der Preis „pro reo“ verliehen wird, ist vor allem davon zu sprechen, daß er sich um das Ideal einer Strafjustiz verdient gemacht hat. Ich beglückwünsche Sie, lieber Erwin Tochtermann, und ich sage Ihnen in unser aller Namen Dank. Ad multos annos!

Gunter Widmaier