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Nachruf auf Gerhard Herdegen

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Am 23. Dezember 2014 ist unser Ehrenmitglied Gerhard Karl Herdegen, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., verstorben. Den Nachruf für die Arbeitsgemeinschaft Strafrecht hat der Kollege Dr. h.c. jur. Rüdiger Deckers verfasst. Die Fotos hat uns die Familie Herdegen zur Verfügung gestellt.

 

Nachruf

Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof a.D. Gerhard Karl Herdegen, geb. am 30. September 1926 als Sohn einer Handwerkerfamilie in einer Kleinstadt im Frankenwald, ist am 23.12.2014 gestorben. Die Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht teilen mit seiner Ehefrau, den nahen Angehörigen und Freunden die tiefe Trauer um den Verlust dieses liebenswerten Menschen und der großen Richterpersönlichkeit.

Wie Karl Peters war auch Gerhard Herdegen zunächst Staatsanwalt (seit 1959). Er wurde bald als wissenschaftlicher Mitarbeiter zum Bundesgerichtshof abgeordnet. 1963 kehrte er als Richter an das Amtsgericht Hof zurück. 1968 wechselte er als Oberstaatsanwalt zur Generalstaatsanwaltschaft Bamberg und widmete sich dort dem Revisionsrecht. 1972 folgte der Ruf an den Bundesgerichtshof, 1982 wurde er Vorsitzender des 1. Strafsenats, ab 1985 nahm er diese Position im 2. Strafsenat ein (vgl. Strate, Gerhard Herdegen zum 80. Geburtstag, www. Strate.net.de).

Hier traf Herdegen auf jenes berufliche/soziale Umfeld, in dem er ein zentrales Thema seines geistigen Schaffens entwickeln konnte:

Die richterliche Beweiswürdigung nach der freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung als an rationalen Kriterien gebundener und dem Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit verpflichteter Erkenntnisakt.

Waren die Postulate von Karl Peters (52. DJT 1978) weitgehend ungehört geblieben, dass die "Objektivierung der Überzeugungsbildung (…) die Gebundenheit der Beweiswürdigung an allgemeingültige Maßstäbe [bedeutet]", so nahm der 2. Strafsenat in seiner Rechtsprechung und Herdegen in Vorträgen und Aufsätzen die Revisibilität der Beweiswürdigung im Urteil des Tatrichters nach rationalen Kriterien in Angriff.

Niemöller (Die strafrichterliche Beweiswürdigung in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, StV 1984, 431) hatte ebenso wie vorausgegangene Entscheidungen des 2. Strafsenats unter dem Vorsitz von Albert Mösl (vgl. Hamm, Einleitung zu Herdegen, Beweisantragsrecht, Beweiswürdigung, strafprozessuale Revision, 1995, S. 9 ff. 13) die Tür für die neue "erweiterte Sachrüge" bereits einen Spalt geöffnet.

Der Vortrag Herdegens auf dem Karlsruher Frühjahrssymposion der ARGE- Strafrecht im Jahre 1986 zu den "Grundfragen der Beweiswürdigung" kann ohne Übertreibung als Sternstunde der Rechtsfortbildung bezeichnet werden. Hier begegneten sich Herdegen und Peters, und Letzterer war nicht allein mit seinem Ausspruch: "Ich gehe geradezu beglückt wieder an meine Arbeit in Münster" (Zit. nach Hamm, a.a.O.). In erkenntnistheoretischer Ableitung (Karl Popper) setzte Herdegen einer subjektivischen Beweiswürdigungstheorie ein objektives und normatives, von Rechts wegen gültiges Beweismaß (der hohen Wahrscheinlichkeit) entgegen, das es ermöglicht, jede Unzulänglichkeit der Beweiswürdigung zu erfassen und die Revisibilität der Beweiswürdigung zu erweitern.

Gerhard Schäfer hat diesen objektiven Ansatz aufgegriffen (StV 1995, 197 ff.; siehe auch FS Rieß, 2002, S. 477 ff., 481) und in der Rechtsprechung des 1. Strafsenats umgesetzt (vgl. nur: BGH 44, 153). In seinem Aufsatz "Was ist unter 'Beweiswürdigung' im Sinne von § 261 StPO zu verstehen?" (FS Eisenberg, 2009, S. 527 ff.) hat Herdegen die rechtswissenschaftlichen und legislatorischen Wurzeln seiner Beweiswürdigungstheorie offengelegt:

Als 1877 in die StPO § 261 in seiner nach wie vor gültigen Fassung übernommen wurde und damit die zuvor in Preußen geltenden normierten Beweisregeln abgeschafft wurden, sollte dem Richter "selbst die Auffindung und Anwendung der Beweisregeln, welche die allgemeinen Denkgesetze, Erfahrungen und Menschenkenntnis an die Hand geben, überlassen [werden]" (Friedrich Karl von Savigny, Richter für Preußisches Strafrecht, 6. Band, S. 48 u. 485), zur Bedeutung der Entscheidungsgründe führt von Savigny aus:

"Dieselben haben eine doppelte Bedeutung; einmal, indem sie die gründliche Erwägung befördern, und sodann, in dem sie die Anfechtung des Erkenntnisses durch Rechtsmittel sowie die Prüfung durch den höheren Richter vorbereiten und möglich machen. (…) der Nutzen der Entscheidungsgründe (lässt) sich nicht verkennen, da die Verpflichtung, wohl motivierte Entscheidungsgründe zu geben, von selbst eine ernstere und gründlichere Prüfung notwendig macht" (a.a.O. S. 491).

Gedanken wie diese sind und bleiben unvergänglich, so wie unsere Erinnerung an diesen charismatischen Richter und das geistige Gut, das er vermittelt hat, überdauern wird.

Das andere große Thema, dem er sich zugewandt hat, betraf die Amtsaufklärungspflicht und das Beweisantragsrecht. In weiteren brillanten Vorträgen beim Symposion in Karlsruhe hat Herdegen seine Gedanken zur kombinierten Aufklärungs- und Beweiswürdigungsrüge (als Verfahrensrüge) entwickelt.

Seine Kritik, die Effizienz des Beweisantragsrechts einzuschränken durch überzogene Konnexitätsanforderungen von Beweisbehauptung und Beweismittel wirkt bis in die Gegenwart (vgl. dazu LR-Becker, § 244, Rn 113 ff.), gleiches gilt für die Ablehnung von Beweisanträgen, die sog. „Negativtatsachen“ betreffen.

Für den Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit hat Herdegen die Parallelität des Begründungszwangs und der -tiefe zur Beweiswürdigung betont. Hier erweist sich die Interdependenz zwischen Beweisantragsrecht und Beweiswürdigung: Je mehr Letztere nur an die subjektive Überzeugung ohne ein zugrundeliegendes rationales – intersubjektiv nachvollziehbares - Begründungsgerüst anknüpft, desto mehr wird das Beweisantragsrecht als das zentrale Mittel der Kontradiktion ausgehebelt.

Dies hat er uns noch 2009 (Die Revisibilität der Beweiswürdigung, in: FS 25 Jahre ARGE Strafrecht des DAV, S. 553 ff. 558) ins Gedenkbuch geschrieben:

"Ein weites Feld parater, die Revisibilität der Resultate tatrichterlicher Wahrnehmungs- und Darlegungskompetenz weit genug öffnender Fakten erhielte man durch das Tondbandprotokoll. Seine Einführung sollte, wie ich meine, ein vordringliches Desideratum der Strafverteidiger sein. "

Wir sollten – auch ihm zu Ehren – nicht rasten, bis sein Rat in die Realität umgesetzt ist. Gerhard Karl Herdegen war seit 1991 Ehrenmitglied der ARGE Strafrecht des DAV, hat im Jahre 1999 vom Deutschen Richterbund und dem Deutsche Strafverteidiger e.V. den Max Alsberg-Preis erhalten und ihm ist 1991 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen worden.